„Betroffene müssen bei uns wirkmächtig sein und erleben, dass sie im Zentrum stehen“: Die ForuM-Studie war Thema beim Frühjahrsgespräch des Stadtsuperintendenten

Die ForuM-Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war Thema beim Frühjahrsgespräch von Stadtsuperintendent Bernhard Seiger mit Vertreterinnen und Vertretern der Presse im Haus der Evangelischen Kirche. Die Studie wurde am 25. Januar 2024 veröffentlicht und ist die erste wissenschaftliche und unabhängige Untersuchung zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie. Als Gesprächspartnerin stand auch die Nippeser Pfarrerin Miriam Haseleu bereit, nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung, Synodalassessorin im Kirchenkreis Köln-Mitte und dort auch Vertrauensperson.

Nach der Veröffentlichung der Studie hätte es viele Presseberichte gegeben. Danach hätte die mediale Aufmerksamkeit nachgelassen, sagte Seiger: „Aber für die Betroffenen und für uns als Organisation bleibt das Thema ganz oben auf der Tagesordnung.“ Bei der Aufarbeitung der Studienergebnisse gilt für den Stadtsuperintendenten: Qualität geht vor Geschwindigkeit. „Zur Glaubwürdigkeit gehört, dass wir das Thema, bei dem unsere Kirche versagt und Schuld auf sich geladen hat, aufmerksam bearbeiten. Wir kümmern uns darum, die Vorkommnisse seit den 50er Jahren bis heute aufzuarbeiten. Und das wollen wir natürlich nicht allein tun, sondern unter unabhängiger und staatlicher Beteiligung. Ich rechne damit, dass uns das Thema dauerhaft begleiten wird.“

Für die Qualität des Prozesses sei die Perspektive der Betroffenen entscheidend. Sie würden stets an entscheidender Stelle beteiligt und bestimmten mit, wie es weitergehe. Das gelte auch bei den Anerkennungsleistungen. „Betroffene müssen bei uns wirkmächtig sein und erleben, dass sie im Zentrum stehen und die Sprache und den Stil der Aufarbeitung bestimmen!“ Das brauche Zeit. Geschwindigkeit sei nicht der Maßstab der Aufarbeitung. „Es dauert eben so lange, wie es dauert.“

Aufarbeitungskommission

Es werde eine Aufarbeitungskommission für die Region Rheinland, Westfalen und Lippe geben, der auch Betroffene angehören. Neben Vertreterinnen und Vertretern der Kirche sind unabhängige Fachleute wie Psychologen und Juristen Mitglieder. Zunächst einmal gehe es um Transparenz in der Datenlage. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat mit 23 Staatsanwälten Verträge abgeschlossen. Versierte Aktenleser und -leserinnen werden in die Kirchenkreise gehen und Material nach vorher erfolgten Meldungen sichten.

Die Kontaktaufnahme mit Betroffenen müsse unbedingt sehr sensibel geschehen, so Seiger. Da seien die Superintendentinnen und -intendenten sowie die Presbyterien gefragt. Erfreulich sei, dass viele Betroffene sich trauten, sich zu melden: „Das ist der Segen der ForuM-Studie. Es wird ihnen geglaubt!“ Die Studie habe offengelegt, wo die Kirche anfällig für sexualisierte Gewalt war und ist. „Geteilte Verantwortung gilt als evangelisch und fortschrittlich, aber genau das kann zu ungeregelten Grauzonen führen.“ Die werde es nun nicht mehr geben. Flächendeckend würden Schulungen verpflichtend. Klar benannt würden Interventions- und Krisenteams.

Bei der Aufarbeitung gehe es natürlich um Schuld. „Es ist immer individuelle Schuld, über die wir reden. Und auch die Schuld durch Nichthandeln und Wegsehen! … Das Bekenntnis von Schuld muss ausgehalten werden. Die Scham und der Schmerz müssen stehen bleiben und nicht in einem Vergebungs- und Versöhnungsmechanismus aufgefangen werden. Schuld kann für Betroffene ein Leben lang Folgen haben und spürbar bleiben. Ihre Aufgabe ist nicht die Vergebung! Es ist die Aufgabe von Täterinnen und Tätern, ihre eigene Schuld anzusehen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Unsere Theologie muss Perspektivwechsel vollziehen und traumasensibler werden.“

Miriam Haseleu erklärte, die ForuM-Studie müsse die Kirche zutiefst irritieren: „Kirche ist ein besonderer Schutzraum für Menschen und ihre unbedingte Würde, für Spiritualität und das menschliche Bedürfnis nach Angenommensein und Gemeinschaft. Dem ist auch unsere evangelische Kirche nicht annähernd gerecht geworden. Wir müssen uns in aller Klarheit der Tatsache stellen, dass Menschen in unserer Kirche diesen Schutzraum aufs Schlimmste missachtet und für sexualisierte Gewalt missbraucht haben.“ Vor diesem Hintergrund gebe es nur eine zulässige Haltung: Reue. Haseleu geht davon aus, dass die bislang bekannten Fälle nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Geschehnisse in der Landeskirche umfassten. Sie ermutigt alle Betroffenen ausdrücklich, sich zu melden. An der Aufarbeitung wirkt Haseleu als Vertrauensperson mit.

Neue Sprachkultur

Im Rahmen der Prävention fordert die Assessorin eine neue evangelische Sprachkultur in Bezug auf Sexualität. „Die Tabuisierung der Thematik, die lange in kirchlichen Kontexten vorherrschte, hat dazu beigetragen, dass zu Grenzüberschreitungen und Übergriffen geschwiegen wurde.“ Wenn Jugendliche im geschützten Raum Zugang zu sexueller Bildung erhielten, könne das erheblich dazu beitragen, sie vor Übergriffen zu schützen. „Nur wer Bescheid weiß, kann Bescheid sagen.“

Die Ergebnisse der Studie forderten auch die gottesdienstlichen und theologischen Traditionen der evangelischen Kirche heraus. Es gelte zu überprüfen, inwiefern gottesdienstliche Sprache und theologische Rede zu Machtmissbrauch und der Ermöglichung von sexualisierter Gewalt beigetragen haben. „Wie reden wir von Gott? Was bedeutet die Rede von Gott als ,Vater‘ und ,Herr‘ für Menschen, die von Vaterfiguren verschiedener Art Gewalt erleiden oder erlitten haben? Was macht die Rede von Gott als ,Allmächtiger‘ mit unserem Verständnis von und unserem Umgang mit Macht?“ Es brauche eine bewusst vielfältige Rede von Gott. „Auch biblisch schon wird Gott auch als Mutter, Amme, Quelle des Lebens und mit anderen weiblichen oder genderneutralen Bildern und Anreden bezeichnet.“ Diese Vielfalt müsse mehr in Gottesdiensten und im Religionsunterricht ankommen.

Betroffene schilderten in der ForuM-Studie, in Gemeinden mit der Forderung konfrontiert worden zu sein, dass sie ihren Täterinnen und Tätern vergeben sollten und müssten. Das sei nicht tragbar. „Solche Vergebungsforderungen verschieben Verantwortlichkeiten und Schuldzuweisungen weg von den Tätern und Verantwortlichen hin zu den Betroffenen. Schuld und Leid müssen anerkannt, benannt und ausgehalten werden.” In vielen Erzählungen des Alten und Neuen Testaments würden kollektive Gewalt und Gewalt an Einzelpersonen verarbeitet. Immer wieder werde dabei deutlich: „Gott steht eindeutig auf der Seite der Gewaltbetroffenen – in höchster Deutlichkeit verdichtet sich das in der Geschichte von Jesu Tod am Kreuz.“ Daraus formulierte Haseleu einen Anspruch an die Kirchenverantwortlichen: „Im Sinne Gottes kann nur die Parteinahme für die Betroffenen sein. Damit verbietet sich jegliche indifferente Haltung und jede kirchliche Machterhaltungspolitik angesichts sexualisierter Gewalt auch aus theologischer Sicht zutiefst.“

Aufarbeitungsgesetz des Bundes zu sexualisierter Gewalt

Inzwischen hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einen Gesetzentwurf veröffentlicht. Der Titel lautet: „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen.“ Es geht dabei vorwiegend um Prävention und Schutz, aber auch um die Aufarbeitung erlittenen Leids. Dazu werden z.B. die Akteneinsichts- und Auskunftsrechte Betroffener verbessert. „Als Vertreter meiner Kirche meine ich: Das Gesetz sollte weiter gehen. Danach sollen sich dann alle Organisationen und Institutionen richten. Wir reden neben den Kirchen über die Felder Schule, Sport und Kultur. Ich sehe das so, dass die Kirchen hier jetzt seit ein paar Jahren Neuland betreten und lernen, also Pionierarbeit leisten. Wir machen dabei sicher Fehler, aber vieles gelingt auch, was uns Gespräche mit Betroffenen bestätigen“, sagte Bernhard Seiger. „Aber die Verfahrensregeln zur Aufarbeitung sollten von außen gesetzt werden und überall gleich sein. Also: Vorgaben zum Umgang mit Akten, zur Unabhängigkeit der Aufarbeitung, zur Erstellung von Schutz- und Schulungskonzepten, vergleichbare Standards zu Anerkennungsleistungen, etc. Das soll dazu dienen, dass wir natürlich die Prävention verbessern, aber uns eben auch um die Aufarbeitung der Vergangenheit kümmern, denn Betroffene leiden an dem Unrecht, das ihnen angetan wurde oft Jahre und Jahrzehnte und ein Leben lang.“

Vertrauensperson und Melde- und Beschwerdestellen bei sexualisierter Gewalt

Im Falle eines Verdachts von sexualisierter Gewalt gegen Kinder oder Jugendliche oder unter Mitarbeitenden des Ev. Kirchenverbandes Köln und Region ist die Vertrauensperson eine erste Ansprechperson. Bitte zögern Sie nicht, im Falle eines Verdachts mit einer von diesen Kontakt aufzunehmen. Sie kennen Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten und beraten Sie zu diesen.

Vertrauenspersonen des Ev. Kirchenverbandes Köln und Region:

Frau Sabine Marx
Ev. Familienbildungsstätte e.V.
Kartäuserwall 24 b
50678 Köln
Tel.: 0221 – 474 45514
E-Mail: marx@fbs-koeln.org

Lukas Pieplow
Tel.: 0221 – 9731770
Mobil: 0163 – 7274375
E-Mail: pieplow.lukas@netcologne.de

Sollten Frau Marx oder Herr Pieplow nicht zu erreichen oder eine andere Person gewünscht sein, sind ebenso Mitglieder des Interventionsteams oder der bzw. die Vorgesetzte des jeweiligen Arbeitsbereichs ansprechbar:

Leitung der Beratungsstelle Tel.: 0221 – 2577461
Leitung des Jugendreferates Tel.: 0221 – 93180115

Leitung Kompetenzzentrum Personal Tel.: 0221 – 3382254

Ein begründeter Verdacht muss bei der landeskirchlichen Meldestelle unter 0211 – 4562602 gemeldet werden.

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann

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