Demokratie fällt nicht vom Himmel: Ehemaliger Bundespräsident Christian Wulff beim AntoniterAbend
„Es gibt Sätze, die gehen in die Geschichtsbücher ein“, sagte Pfarrer Markus Herzberg im Antonius Saal des Citykirchenzentrums – und bezog sich auf diesen denkwürdigen Satz im Jahr 2010 vom damaligen Bundespräsident Christian Wulff: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Christian Wulff widmete sich zunächst in einem etwa einstündigen Vortrag, dann im Dialog mit Markus Herzberg und dem Publikum, dem Thema „Wie viel Religion braucht die Demokratie?“. Musikalisch gestaltet wurde der Abend von KMD Johannes Quack am Flügel.
Christian Wulff würdigte zunächst die Antoniterkirche als einen „wichtigen Ort für die evangelische Kirche in Köln“ und das Citykirchenzentrum als ein „offenes Haus“, wie es für einen demokratischen Diskurs unentbehrlich sei.
„Wir brauchen den ganzen Ideenreichtum der Menschen“
Das 21. Jahrhundert fordere den Menschen enorm viel ab. Stellvertretend nannte er die fehlenden Mittel, um soziale Ungerechtigkeit auszugleichen, den um sich greifenden Populismus, das immer schwieriger werdende Regieren, die Kriegsgefahr, den Klimawandel, der auch die Gefahr gefährlicher Infektionskrankheiten wachsen lasse, den technischen Fortschritt mit seinen vielfältigen Herausforderungen sowie den Bevölkerungsrückgang in der westlichen Hemisphäre. Angesichts dessen forderte der Bundespräsident a.D. „mehr Anstrengungen für eine enkeltaugliche Zukunft“. „Wir brauchen den ganzen Ideenreichtum der Menschen“, betonte Wulff und dabei komme den Weltreligionen eine „herausragende Rolle“ zu.
Angesichts des oft sehr negativen Urteils über unsere Gegenwart blickte er zurück in das Jahr 1923 mit Hyperinflation, Pogromen und Unruhen. Wulff illustrierte diese „Zeitreise“ mit einer Anekdote aus den Tagebüchern Victor Klemperers, der davon berichtet, wie er zum Preis von 6.000 Reichsmark einen Kaffee bestellt habe, der jedoch, als er ihn zwei Stunden später bezahlen wollte, bereits 20.000 Reichsmark gekostet habe. Die mittlerweile 78-jährige Friedensperiode, die unser Land seit dem Ende des II. Weltkriegs erleben durfte, sei jedoch keine Selbstverständlichkeit und bedürfe der Wachsamkeit und des aktiven Engagements. „Nichts davon kam von allein und nichts davon ist automatisch“, betonte Wulff und mahnte: „Die größte Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist politische Ignoranz.“ Doch nicht nur die Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen sinken, sondern auch diejenigen der Parteien und Gewerkschaften.
Christian Wulff gab auch Einblick in seine eigene politische Sozialisation. Mit 18 Jahren durfte er den evangelischen Theologen, Widerstandskämpfer und späteren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier erleben, der schon damals vor schleichenden Entwicklungen warnte, die die Demokratie gefährden könnten. Als besonders prägendes Vorbild beschrieb das ehemalige Staatsoberhaupt Freya von Moltke, die Widerstandskämpferin und Ehefrau des 1945 für seine Beteiligung am Attentat des 20. Juli hingerichteten Helmuth James Graf von Moltke, die in der Antoniterkirche getauft wurde. „Es waren Christen, die das vereinigte Europa vorangetrieben haben“, rief Wulff in Erinnerung und dachte dabei an Robert Schuman und Konrad Adenauer.
Auch an der Wiedervereinigung Deutschlands hätte die evangelische Kirche in der DDR einen entscheidenden Anteil gehabt: Sie übte hartnäckig Systemkritik, war federführend an den Montagsdemonstrationen beteiligt und gab dem gewaltlosen Protest im Wortsinne Raum. „Ohne so viele gläubige Christen hätte es den Erfolg der Montagsdemonstrationen nicht gegeben!“, erklärte Wulff.
„An Vertrauen mangelt es überall“
Wichtig sei es, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Dazu würden christliche Gemeinden, aber auch Chöre und Gewerkschaften ihren Beitrag leisten. Zudem „outete“ sich Christian Wulff als begeisterter (analoger) Zeitungsleser und betonte die Bedeutung des Qualitätsjournalismus für eine funktionierende Demokratie. Es sei problematisch, wenn Diskussionen nicht mehr auf einer gemeinsamen Grundlage stattfänden.
Als eines der großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit diagnostizierte Wulff den Vertrauensverlust. „An Vertrauen mangelt es überall“, stellte er fest und zitierte eine Studie der Universität Bielefeld, die ergab, dass zwei Drittel der Befragten anderen nicht vertrauen und 50 % der Aussage zustimmen „Die meisten versuchen, andere reinzulegen“.
In der anschließenden Diskussion warf Pfarrer Markus Herzberg die Frage auf, ob wir uns an einem ähnlichen Punkt befinden wie 1923. Dieser pessimistischen Zeitdiagnose wollte Christian Wulff mit Verweis auf das Grundgesetz nicht zustimmen. Der Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) sei „der schönste Satz in deutscher Sprache“.
Weiterentwicklung der Demokratie
Natürlich kam auch das Ende seiner Amtszeit zur Sprache, bei dem auch die Medien eine unrühmliche Rolle spielten. „Wie geht man damit um, wenn einem so etwas passiert?“, wollte Markus Herzberg wissen. „Es bleibt eine Narbe“, gab Wulff zu, „aber mich beruhigt, dass es seitdem eine Debatte gibt.“
Vom Persönlichen leitete Markus Herzberg dann wieder zum eigentlichen Thema des Abends über: „Wie kriegen wir es hin, dass sich wieder mehr Menschen an der Demokratie beteiligen?“ Der ehemalige Bundespräsident forderte eine „Weiterentwicklung der Demokratie“ mit mehr Partizipation. Er selbst habe kein Problem mit Urabstimmungen zu bestimmten Themen.
Handlungsorientiert und den Blick in die Zukunft gerichtet war auch Markus Herzbergs abschließende Frage: „Was können wir aus dieser Krise schöpfen?“ Christian Wulff mahnte Reformen in Verwaltung und Demokratie an, ging aber auch auf die Rolle der Kirchen ein, die vor allem „offene Gebäude“ sein sollten. Im wachsenden Bedürfnis, Einsamkeit zu bekämpfen und vermehrter Sinnsuche sah Wulff auch eine „riesige Chance“ für die Kirchen – sofern es diesen gelänge, mit ihren Angeboten „mittendrin“ und „niedrigschwellig“ zu sein.
Nachdem er sich noch einigen Fragen aus dem Publikum gestellt hatte, gab Christian Wulff den Gästen im Antonius Saal noch ein Zitat der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth mit auf den Heimweg: „Wir schaffen das nur im Wir!“
Text: Priska Mielke
Foto(s): Priska Mielke
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