Evangelische Beratungsstelle Bensberg – Hilfe für Jugendliche, die still leiden
In eigener Sache
Neben jungen Menschen mit konkreten Anmeldegründen (Stress mit Eltern oder Freunden, Probleme in der Schule, Mobbingerfahrungen etc.) erscheinen seit einigen Jahren immer öfter junge Menschen, deren Anmeldungsgrund zu Beginn wenig konkret erscheint.
Während sie berichten, wie es ihnen geht, wirken sie zurückhaltend, in sich gekehrt, angespannt und traurig. Wenn man ihnen dies zurückspiegelt, sagen sie in der Regel, dass andere in ihrem Umfeld das so nie bemerken würden:
„Das ist wie eine Maske – die anderen sehen die Maske – wie ich dahinter bin, weiß keiner.“ (Abiturientin, 17 Jahre)
„Von meinen Freunden soll keiner mitbekommen, wie es mir wirklich geht, die denken sonst – mit dem ist etwas nicht in Ordnung.“ (Neuntklässler, 15 Jahre)
Wenn man weiter fragt, wie es ihnen wirklich geht, benennen die meisten eine „tiefe Traurigkeit“ und „hohe innere Anspannung, die irgendwann raus muss“. Manche erzählen, dass sie zu Hause in ihrem Zimmer leise vor sich hin weinen:
„Ich drücke mir ein Handtuch vor den Mund, damit mich keiner hört, bis ich vor Erschöpfung nicht mehr kann.“
Andere berichten von verstärkter Atmung bis hin zur Atemnot, von einer Unfähigkeit sich zu bewegen und großer Angst. Bei diesen Jugendlichen kommt es häufig zu Panikattacken und / oder selbstschädigendem Verhalten, zu aggressiven Ausbrüchen, zu Substanz- oder Alkoholmissbrauch.
Eigentlich alles gut?!
Bei diesen Beschreibungen stellt sich die Frage, weshalb die Jugendlichen und jungen Erwachsenen davon ausgehen, dass „eigentlich alles gut ist“?
Tatsächlich gibt es oberflächlich betrachtet oft keinen Grund, sich schlecht zu fühlen. Die meisten dieser jungen Menschen sind gut in der Schule, besuchen das Gymnasium und leben in geregelten familiären Verhältnissen, als Trennungskinder oder mit Eltern, die oft gut situiert als Doppelverdiener tätig sind.
Innerhalb der Familien wird gut füreinander gesorgt, die Eltern oder Patchworkeltern werden als zugewandt beschrieben. Auch diese berichten bei Rückfragen, man sei bislang gut miteinander im Kontakt gewesen und könne sich nicht erklären, wieso es den Kindern so schlecht gehe. Was ist also der Hintergrund?
Leistung und soziale Kontrolle
Als auslösende Bedingungen benennen die jungen Menschen:
- Die Sorge, den Anforderungen in der Schule nicht gewachsen zu sein.
- Ein hohes Maß an sozialer Kontrolle unter Freunden und Mitschüler:innen, insbesondere durch Handychats und soziale Medien.
Darüber hinaus werden in den Gesprächen weitere Stressbedingungen sichtbar:
- Individuelle Stressmomente innerhalb der Familie. Dazu gehören z.B. Streit und Auseinandersetzungen vor einer Trennung der Eltern, die den jungen Menschen noch gut in Erinnerung sind.
- Oder die Berufstätigkeit beider Eltern, die an einen sehr klaren und stringenten Tages- und Wochenablauf gebunden ist, in dem alle gut zu funktionieren haben.
- Manchmal gibt es auch konkrete Traumata, wie Krankheit oder Tod von Familienangehörigen.
Äußere Bedingungen der Gesellschaft: Genannt werden hier die massiven Einschränkungen und Ängste in der Corona-Zeit sowie Ängste vor Kriegsszenarien, Klimakatastrophen und einer ungewissen Zukunft.
Wenn wir über diese auslösenden Bedingungen sprechen, ist es für viele das erste Mal, dass sie sie als „negativ, schlecht, böse“ etc. benennen und beschreiben dürfen. Viele äußern sich darüber erleichtert und sagen, dass sie das so noch nicht gesehen hätten.
Darüber spricht man nicht
Diese Themen auch mit Freunden und Familie anzusprechen, können sich viele aber nicht vorstellen. Sie sagen zum Beispiel:
„Das darf man nicht, dann fliegt man direkt raus oder ist total out“
„So etwas machen wir nicht in unserer Familie“
Es scheint eine Art ungeschriebenes Gesetz zu geben: Man ist nicht böse miteinander, man darf andere nicht angreifen, und man darf seine eigene Sichtweise nicht auf andere übertragen, weil man sie damit verletzen könnte.
Man darf nicht sagen, dass es einem schlecht geht oder dass man sich schlecht fühlt. Da beißt man lieber ins Handtuch, damit das Weinen und die Atemnot nicht gehört werden, oder man greift zu Ersatzhandlungen, die Traurigkeit, Angst und Panik reduzieren sollen.
„Es hilft sowieso nichts und keiner kommt“, sagen viele Jugendliche.
Also machen sie gute Miene zum bösen Spiel, und daraus folgt:
„Wenn ich es mir recht überlege, ist alles doch eigentlich nicht so schlimm – eigentlich ist doch ALLES GUT!“
Emotionaler Perfektionismus: Alles unter Kontrolle
Frustration, Traurigkeit, Ärger – all das darf gar nicht erst gedacht geschweige denn gesagt werden. Man passt sich an, aus Angst allein dazustehen oder negativ aufzufallen. Unangenehme Gefühle werden unterdrückt, dürfen nicht da sein und müssen kontrolliert werden.
Die britische Psychologin Annie Hickox spricht hier von einem „Emotionalen Perfektionismus“:
„Normalerweise denken wir bei einem Perfektionisten an jemanden, der bei der Arbeit, zu Hause oder vielleicht bei seinem Aussehen unmögliche Standards erreichen will. Emotionaler Perfektionismus bedeutet jedoch, dass wir unmögliche Maßstäbe an unsere tatsächlichen Gefühle anlegen („Ich sollte in der Lage sein, meine Emotionen zu kontrollieren“).“ (Stand Januar 2024, Übersetzung mit DeepL)
Emotionaler Perfektionismus führt ihrer Meinung nach zu einem Kreislauf von Angst, negativen Gedanken und Gefühlen und damit zu einer hohen inneren Anspannung, auch ausgelöst durch eine „Hoffnungslosigkeit, nie aus dieser Tretmühle herauszukommen“.
Wie es wirklich gut werden kann
In den Beratungsgesprächen versuchen wir, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen und Möglichkeiten zu finden, mit denen man Ärger, Wut, Traurigkeit und andere als „negativ“ konnotierte Gefühle erst einmal zulassen und dann im zweiten Schritt bearbeiten kann.
Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast benennt die Fähigkeit, Ärger äußern zu können, als Grundbedingung für Ich-Stärke, Selbstwertgefühl und Beziehungsfähigkeit. Wenn man Ärger äußert, nimmt man sich ernst und zieht gleichzeitig eine Grenze, an der man sich mit anderen reiben und verbinden kann:
„Wer Ärger zulässt, glaubt daran, dass man das Leben noch verändern kann. Wer den Ärger nicht mehr zulässt, glaubt nicht mehr daran.“
(Verena Kast: „Vom Sinn des Ärgers – Anreiz zu Selbstbehauptung und Selbstentfaltung“, Freiburg im Breisgau, 2023)
Auch, wenn dann immer noch Arbeit vor uns liegt: Wenn die jungen Menschen erst einmal Handlungsfähigkeit erleben, in einer für sie gefühlt ausweglosen Situation, ist das eine gute Grundlage dafür, dass eben nicht alles hoffnungslos erscheint – und vielleicht … doch ein bisschen gut werden kann.
Kontakt & weiterführende Informationen
Ev. Beratungsstelle Köln, Bensberg und Frechen
Evangelischer Kirchenverband Köln und Region
Milchborntalweg 4, 51429 Bergisch Gladbach
Telefon 02204 54 00 4
www.beratungsstelle-bensberg.de
Beratungszeiten:
Montag bis Freitag nach Vereinbarung
Beratungen sind vertraulich, kostenfrei und unabhängig von Religion oder Herkunft.
Text: Susanne Hucklenbroich-Ley – Dieser Text ist zuerst erschienen im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer. Der Newsletter richtet sich an Eltern und Großeltern mit jüngeren Kindern in Bergisch Gladbach und Umgebung.
Foto(s): Ev. Beratungsstelle Köln, Bensberg und Frechen
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