Pfarrer Mathias Bonhoeffer: Dialektik

Das Wort Isolation hat in diesen Tagen einen besonderen Beigeschmack bekommen. Wir sind zum ersten mal alle und gemeinsam betroffen und spüren, wie wertvoll freies Leben, freies Handeln und der freie Umgang mit anderen Menschen ist. Auch Pfarrer Mathias Bonhoeffer darf wieder raus – allerdings zu besonderen Konditionen: „Maximal zwei Personen dürfen gemeinsam beieinander stehen. Es sei denn es ist Familie“… Für Bonhoeffer fühlt sich das alles sehr befremdlich an. Mit dem „weggesperrt“ hat er seine Probleme, wie so viele Menschen auch an diesen sonnigen Tagen: „Eingesperrt. Weggesperrt und wehe dem, dem einsamen Senior, der einkaufen geht bevor ihm die Decke auf den Kopf fällt. Die Folgen: Nicht abzusehen. Die Kosten: Nicht abzusehen.“

Bonhoeffer hadert mit der Situation, er sieht die Welt in einem neuen Licht. Zweckoptimismus in Ehren – aber denken darf noch erlaubt sein… Und er macht sich seine Gedanken: eine komplizierte Zeit, eine Stimmung irgendwie dazwischen. Auf der eine Seite das Gefühl der Ruhe auf der anderen das der Angst auf Isolation. Hier ein Raum für stille, gute Momente und dort eine Kammer voller Angst und Einsamkeit. Dialektik eben – die Bonoeffer versucht zu begreifen und in passende Worte zu kleiden.

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Hier der ganze Text zum Nachlesen:

Dialektik

Seit gestern ist die Quarantäne aufgehoben, ich darf wieder aus dem Haus. Allerdings in leergefegte Straßen. Maximal zwei Personen dürfen gemeinsam beieinanderstehen. Es sei denn es ist eine Familie. Alles andere ist mit Bußgeldern bewährt. Das Robert-Koch-Institut bekommt anonymisierte Handydaten, sprich, Bewegungsprofile zugeschickt. Der Sonnenschein hat für mich etwas Unwirkliches, Surreales. Der kalte Wind tut sein Übriges dazu. Die Regale der Supermärkte sind gut gefüllt. An den Kassen muss ich nicht lange warten. Dafür vor dem Supermarkt. Man kann nicht alles haben. Seit einer Woche wird eine ganze Gesellschaft mit ihrem Kultur-, Finanz- und Wirtschaftsbetrieb, mit ihren sozialen Netzwerken und Bezügen auf das brutalste heruntergebremst. Shut down, Lock out, oder besser: Lock in. Eingesperrt. Weggesperrt und wehe dem einsamen Senior, der einkaufen geht bevor ihm die Decke auf den Kopf fällt. Die Folgen: Nicht abzusehen. Die Kosten: Nicht abzusehen. Das auf Gemeinschaft angelegte Wesen Mensch sucht sein Heil in der kollektiven Isolation. Aber Isolation ist ebenso eine anerkannte Foltermethode. Die Theologie nennt das Dialektik. Die Lehre von den Gegensätzen in den Dingen beziehungsweise den Begriffen sowie die Auffindung und Aufhebung dieser Gegensätze. Nach der „Auffindung und Aufhebung dieser Gegensätze“ wird noch gefahndet. Aus Analog wird digital. Werkzeuge, die einen Austausch auf große Distanzen hin ermöglichen sollen, Videokonferenzen, vernetzen plötzlich Menschen, die auf der anderen Seite der Straße, ja des Flurs wohnen. Wenn beide denn mit einem Laptop und einem Handy umgehen können und so etwas wie Medienkompetenz haben. Nicht jedem, nicht jeder ist beides gegeben. Und dann muss noch die Internetleitung oder das Datenvolumen mitspielen. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?“ Denn: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr; fremd wie dein Name sind mir deine Wege. Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott; mein Los ist Tod, hast du nicht anderen Segen? Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt? Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen. 2. Von Zweifeln ist mein Leben übermannt, mein Unvermögen hält mich ganz gefangen. Hast du mit Namen mich in deiner Hand, in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben? Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land? Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen? 3. Sprich du das Wort, das tröstet und befreit und das mich führt in deinen großen Frieden. Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und lass mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete. Seien sie gegrüßt und behütet. Gott segne Sie.

Text: APK/Bonhoeffer
Foto(s): APK

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