Suizidassistenz: „Wir müssen lernen, unsere Endlichkeit zu akzeptieren“
„Wir müssen lernen, unsere Endlichkeit zu akzeptieren. Der Mensch lebt immer auf den Tod hin“, meint Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr Universität Bochum. „Es kann ein Akt christlicher Barmherzigkeit sein, den Sterbewunsch zu akzeptieren.“ Ein Thema, das für Diskussion sorgt, stand jetzt auch auf der Agenda der Melanchthon-Akademie: In Kooperation mit dem Evangelischen Forum Bonn und der Evangelischen Akademie im Rheinland referierte Isolde Karle über „Suizidassistenz – eine Herausforderung für Diakonie und Seelsorge“.
70 Prozent aller Evangelischen sprechen sich für die Suizid-Assistenz aus
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 zur Suizidassistenz müssen sich Kirche und Diakonie überlegen, wie sie mit der neuen Rechtsentwicklung umgehen – sowohl in ihren diakonischen Einrichtungen als auch in den Gemeinden. Einer Umfrage zufolge sprechen sich aktuell 70 Prozent aller Evangelischen für die Suizid-Assistenz aus. Eine spontane Befragung der Teilnehmenden des Online-Forums förderte ein ähnliches Ergebnis zutage. 61 Prozent votierten für die Suizid-Assistenz, 26 Prozent dagegen, 13 Prozent waren unentschieden.
Möglichst umsichtige Suche nach humanen Wegen der Begleitung von Menschen mit Sterbewunsch
Isolde Karle ging unter anderem den Fragen nach, wie man unter theologisch-ethischen sowie seelsorgerlichen Gesichtspunkten und möglichst umsichtig nach humanen Wegen der Begleitung von Menschen mit Sterbewunsch suchen kann. Aber alles sei sehr komplex. „Es gibt keine eindeutige moralische Position. Wir sind letztlich verstrickt in unlösbare Fragen.“
Paragraf 217 des Strafgesetzbuches
Der Paragraf 217 des Strafgesetzbuches beinhaltete das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe. Zu Klagen war es gekommen, weil der Bundesgesundheitsminister diesen Paragrafen so interpretiert hatte, dass schon das Ausstellen eines Rezepts für ein tödliches Medikament durch einen Arzt oder eine Ärztin als strafbar galt. Deswegen war einem Suizidwunsch in der Praxis nie stattgegeben worden.
„Das Bundesverfassungsgericht hat sein Urteil sehr weit gefasst und den 217 für verfassungswidrig erklärt“, sagte Isolde Karle. „Das Gericht sah das Recht auf Selbstbestimmung nicht gegeben und rückte in seinem Urteil nun dieses Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auch und gerade im Blick auf das eigene Sterben und den eigenen Tod in den Mittelpunkt.“
Rechtsunsichere Lage
Inzwischen sei das Urteil schon über ein Jahr alt, und es habe sich nichts getan: Der Gesetzgeber, also der Bundestag, der Aufforderung des Verfassungsgerichts, ein neues Gesetz zu entwickeln, bislang nicht nachgekommen. Dadurch sei eine rechtsunsichere Lage entstanden. Neben dem Selbstbestimmungsrecht sei das Recht auf Selbsttötung ein Abwehrrecht.
Intensive Debatte im Rat der EKD
„Es geht darum, ein übergriffiges Verhalten des Staates abzuwehren. Der Suizid darf nicht verunmöglicht werden“, so die Bochumer Theologin. Sie verwies auf die intensive Debatte im Rat der EKD, der das Thema auf die nächste EKD-Periode verschoben habe. „Wir können nicht einfach nur Nein sagen und die Augen verschließen.“ Die Selbstbestimmung sei ein hohes Gut im protestantischen Denken. „Aber wir können den Begriff nicht nur dann hoch halten, wenn er uns den Kram passt.“
Suizidwünsche sollen nicht länger tabuisiert werden
Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, die Kirche käme daher und wisse alles besser. „Eine paternalistische Form der Fürsorge ist die Alternative zur Selbstbestimmung.“ Wenn jemand für sich beschließe, dass er oder sie die letzten Schritte nicht mehr gehen wolle, nicht genug Kraft habe für die letzten Wochen oder Angst vor dem Sterben, müsse das im Ausnahmefall respektiert und akzeptiert werden. Aber, sagte Isolde Karle: „Wir wollen auf keinen Fall, dass das in der Diakonie Normalität wird oder gar zum Leistungsspektrum gehört. Wichtig ist aus meiner Sicht eine intensive multidisziplinäre Beratung des Menschen mit Sterbewunsch. Die Diakonie ist dem Leben viel stärker verpflichtet als etwa Sterbehilfeorganisationen. Uns geht es primär um Suizid-Prävention. Und darum, dass Suizidwünsche nicht länger tabuisiert werden.“
Verbessert werden müsse die palliative Versorgung abseits der großen Städte. Sehr wichtig sei eine ethisch sensible Seelsorge bei einem Sterbewunsch. Die Seelsorge solle empathisch-wertschätzend sein. Krankenhaus-Seelsorger und -Seelsorgerinnen müssten ethisch gebildet sein.
Seelsorge muss akzeptieren, wenn jemand sage, dass etwas gut für ihn sei
Isolde Karle erinnerte an das Wort von Friedrich Schleiermacher, Seelsorge solle der Förderung von Freiheit dienen. Martin Luther habe die Seelsorge nicht zuletzt als Trost verstanden. In der Seelsorge gehe es nicht darum, etwas besser zu wissen. Die Seelsorge habe zu es akzeptieren, wenn jemand sage, dass etwas gut für ihn sei.
Gespräche mit Angehörigen sind schwierig
Unbedingt müssten die Seelsorgerinnen und Seelsorger mit der Familie des Menschen eine Beziehung aufbauen, der sterben möchte. Diese Gespräche seien oft schwierig. Dass Angehörige Druck auf Ältere, Kranke ausübten, Suizid zu begehen, sei in der Praxis sehr selten. „Viel öfter können Angehörige nicht akzeptieren, dass jemand sterben will. ,Du musst bei uns bleiben‘ hört man oft. Angehörige üben viel häufiger Druck aus, den Suizidwunsch aufzugeben.“
Die Seelsorgerinnen und Seelsorger müssten sich davor hüten, sich mit den Angehörigen gegen den Sterbewilligen zu verbünden. Und zuletzt: „Es ist ein kategorialer Unterschied, ob jemand dem Sterbewilligen den Becher mit den Barbituraten zum Mund führt oder ob der Suizidwillige es selbst tut. Bei ihm muss die Tatherrschaft liegen. Das muss man wirklich wollen. Das ist anders als wenn man liegt und in die Vene fließt das Mittel, das mich in den ewigen Schlaf führt.“
Mehr Informationen über Isolde Karle
Isolde Karle ist Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr Universität Bochum und erregte Aufsehen mit einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), den sie mit Professor Reiner Anselm vom Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, und Diakoniepräsident Ulrich Lilie verfasst hat. Der Beitrag wurde von Professor Jacob Joussen von der juristischen Fakultät der Uni Bochum, Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dem Göttinger Palliativmediziner Professor Friedemann Nauck und Bischof Ralf Meister der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers mitgezeichnet. Er trug den Titel: „Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen“.
Text: Stefan Rahmann/APK
Foto(s): Stefan Rahmann/YouTube.com
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