Theologie und Musik sind der Kern evangelischer Verkündigung“ Kirchenmusikdirektor Thomas Schmidt sprach über 2000 Jahre Kirchenlieder und 500 Jahre evangelisches Gesangbuch
Vor rund 500 Jahren entstand das erste evangelische Gesangbuch. Aber die Geschichte der Lieder, die in Kirchen gesungen werden, reicht deutlich weiter zurück. Das machte Kirchenmusikdirektor Thomas Schmidt deutlich bei einem Vortrag in der Erlöserkirche in Rodenkirchen. Der Kantor an der Marktkirche in Neuwied und Kreiskantor des Kirchenkreises Wied ist Mitglied der Gesangbuchkommission der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und war viele Jahre als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln tätig.
Sein Betrachtungszeitraum umfasst 2000 Jahre und beginnt in der Spätantike. Gleich zu Beginn ging es um das Grundsätzliche: „Die Gemeinde wird im Gottesdienst beim Singen als Ganzes aktiv. Daran wird deutlich, dass der Gottesdienst keine Vorstellung weniger Mitwirkender für ein Publikum ist. Vielmehr ist die Gemeinde Mitträger und Mitgestalter des Gottesdienstes. Die Lieder sind nicht Dekoration des Gottesdienstes, sondern haben eine eigene Funktion. Sie sind wie auch der Chorgesang gleichermaßen Lobpreis und Verkündigung und deshalb musizierte Predigt.“ Ein Gesangbuch sei keine Bibel. Es sei ständig im Umbruch. Das älteste überlieferte Textstück der Bibel ist ein Lied, das Mirjamlied. „Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.“
Schmidt schlussfolgerte: „Das Volk Israel bringt also seine heilvollen Erfahrungen mit Gott zuerst in Liedern zur Sprache, gibt sie in Liedern weiter und vergegenwärtigt sich im Singen der Lieder das darin bezeugte Heil.“ In Liedern verarbeitet würden aber auch Unheilserfahrungen: „Mein Herr, warum hast du mich verlassen.“ Entstanden sei „dieses einzigartige Gesangbuch Israels, das Buch der Psalmen mit seinen 150 Liedern“. Belegt sei, dass auch in den ersten Christengemeinden unter anderem die Psalmen gesungen wurden. Nach der Konstantinischen Wende 313 erlangten die Christen mehr Einfluss im Römischen Reich. 380 wurde das Christentum Staatsreligion. Der in Trier geborene Ambrosius wurde nach einer politischen Karriere Bischof von Mailand. Das Bistum Mail war gespalten zwischen Trinitariern und Arianern.
Kaiserin Justina wollte die Kirche „Basilica Porziana“ für die Arianer in Besitz nehmen. Ambrosius schloss sich mit seinen Anhängern in der Kirche ein, um die zu verhindern. Um das Ermüden der Männer zu verhindern, ließ er sie wechselweise Psalmen singen. Belegt ist auch, dass er später selbst Lieder schrieb. Deren Form, der Ambrosianische Hymnus, ist die Urform des Gemeindeliedes. „Was sich in der Westkirche schließlich durchgesetzt hat, ist der sogenannte Gregorianische Choral, ein einstimmiger, formal sehr vielgestaltiger und teilweise höchst kunstvoller Männer-Gesang in lateinischer Sprache, der gar nicht mehr von der Gemeinde ausgeführt werden kann, sondern von Priestern, Solisten oder einer Chorgruppe, der Schola, vorgetragen wird“, erläuterte Schmidt.
Mit dem Aufblühen der Klosterkultur, der zunehmenden Klerikalisierung der Kirche und der Vorherrschaft des Kirchenlateins habe der Gesang einen exklusiven Charakter erhalten. Seit der Reformation gelte: „Theologie und Musik sind der Kern evangelischer Verkündigung.“ In Zentren der Reformation hätte es sehr schnell Liederdichter, Flugblätter und später auch Gesangbuchdrucke gegeben. Von Luther seien 43 Lieder bekannt, davon 37 Kirchenlieder. 1523 nahm er die Reform der Gottesdienste in Angriff.
„Die Gemeinde wird zur aktiven Mitgestalterin des Gottesdienstes. Luther erkannte im Kirchenlied das geeignete Mittel zur gottesdienstlichen Ausübung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. Was in der katholischen Messe allenfalls geduldet war, wird in der evangelischen Kirche von Anfang an wesentlicher Bestandteil des Gottesdienstes.“ Da sich nur wenige dafür begeisterten, Kirchenlieder zu schreiben, blieb dem Reformator nichts anderes übrig als selbst zur Feder zu greifen.
Er habe die Psalmen sehr geschätzt und habe sie in Strophenlieder übertragen. „Ein feste Burg ist unser Gott“ sei von Psalm 46 „thematisch angeregt“. Heinrich Heine habe „Ein feste Burg“ als „Marseiller Hymne der Reformation“ genannt, Friedrich Engels die „Marseillaise der Bauernkriege“. Nun waren die Gemeinden nicht gewohnt, im Gottesdienst zu singen. Sie mussten lernen, „in der Kirche den Mund aufzumachen“. Gesangbücher waren teuer und waren für Pfarrer und Kantor bestimmt.
Luther habe, so Schmidt, die Verwendung von Gesangbüchern ausdrücklich abgelehnt. Gelöst wurde das Problem mit dem Auswendiglernen durch Kinder. Die lernten die Lieder in Schulen und wurden dann in den Gottesdiensten zwischen Erwachsenen verteilt. Gebildete Bürger trafen sich zum Singen in Kantoreien. „Paul Gerhardt war nicht nur durch die Jahrhunderte hindurch prägend für die Spiritualität evangelischer Gottesdienste. Er ist es auch noch heute“, fasste Schmidt die Bedeutung des Liederdichters zusammen, der den Dreißigjährigen Krieg überlebt habe: „Und seine Vertrauens- und Trostlieder spiegeln die Leiden dieses vergangenen Krieges wider.“ In Berlin traf Gerhardt Johann Crüger, den Kantor an die Nicolaikirche und hochgebildeten Musiker und Melodienschöpfer.
„Man kann durchaus sagen, dass Johann Crüger Paul Gerhardt entdeckt hat. Crüger bittet Gerhardt um Texte. Dieser liefert sie. Die Arbeitsgemeinschaft des in die Jahre gekommenen Theologiestudenten mit dem um neun Jahren älteren Musikdirektor und Kantor wird zur Sternstunde der Liedgeschichte.“ Über das Lied „Nun ruhen alle Wälder“ etwa hätten viele Gebildete die Nase gerümpft. „Obwohl das Lied zeitweise sehr umstritten war, hat es doch Eingang in die Herzen vieler Menschen gefunden; wegen der Schlichtheit der volkstümlichen Sprache – hauptsächlich aber wegen seiner Echtheit. Man spürt: Paul Gerhardt hat so geschrieben, wie er gefühlt hat. Und dabei hat er genau den Ton getroffen, in dem viele andere Menschen auch beten wollten.“
Die Zeit nach Gerhardt, die Zeit der Aufklärung, war turbulent. Während sich viele Theologen deren Ideen öffneten, meuterten die Gläubigen: „Allerdings schlägt die Aufklärung nicht in voller Breite durch. Ihre Ideen erreichen nicht die Mehrheit des Volkes. Vielmehr finden die Reformversuche ihre Grenzen an der Mentalität der Aufzuklärenden. Sie setzen sich am ehesten unter den Gebildeten durch, nicht aber in den Unter- oder Mittelschichten. Diese sahen nämlich in den Konfessionskirchen weiterhin die entscheidende Bildungsmacht; und ihre hauptsächliche Lektüre war nicht Immanuel Kant, sondern Bibel, Katechismus und Gesangbuch.“
Die Umdichtungen der Aufklärer wurden abgelehnt. „Eine Methode des Widerstands war, dass die Gemeinde einfach die angeschlagene Liednummer nach dem alten Gesangbuch sang.“ Im 19. Jahrhundert begannen auch Frauen, Kirchenlieder zu schreiben. Diese waren oft einfühlsamer und seelsorgerlicher als die ihrer männlichen Kollegen. Als Beispiel nannte Schmidt „So nimm denn meine Hände“ von Katharina von Hausmann.
Mit dem „Neuen Geistlichen Lied“, meist verfasst von „Liedermachern“, konnte Schmidt wenig anfangen. „Statt poetischer Sprache zeigt sich symbolarme, eindeutige, stellenweise plakative Alltagssprache in den Texten, um die Menschen „abzuholen“ und Verständnisprobleme zu vermeiden. Dem entspricht die Tendenz zu einfachen Melodien, wo das Mitsingen der Gemeinde im Blick ist.“
Aber immerhin gibt es auch noch Liederdichter und Komponisten, die nicht auf dieser Welle mitschwimmen. Schmidt nannte Walter Schulz, Kurt Rommel und Dieter Trautwein. „Die neusten Entwicklungen in der singenden Kirche sind die Gesänge aus Taizé, die Gospelbewegung und in den letzten Jahren die Lieder der Praise & Worship-Bewegung. Was sich davon dauerhaft halten wird, muss die Zukunft zeigen.“
Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Thomas Schmidt/APK
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