Traumasensibler werden – Studientag der MAK zur ForuM-Studie in Köln setzt Zeichen für Veränderung
Ein Jahr nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie hat die Melanchthon-Akademie zu einem Studientag zum Thema „Traumasensiblere Kirche werden“ in das Haus der evangelischen Kirche eingeladen: In Vorträgen, kulturellen Interaktionen und Workshops waren die Teilnehmenden nicht nur zum Zuhören, sondern auch zum kreativen Weiterdenken aufgefordert.
„Wir wollen nicht nur in Worten, sondern auch in Räumen denken“, formulierte Studienleiterin Dorothee Schaper und spielte damit darauf an, dass sich im Laufe des Tages Arbeitsgruppen auf verschiedene Räume im Haus der evangelischen Kirche verteilen würden und jede(r) sich während des Tages den Raum nehmen sollte, der ihm oder ihr gut tut. Akademieleiter Martin Bock richtete den Blick gleichzeitig zurück und nach vorne, wenn angesichts des Missbrauchsskandals fragte: „Wo sind die Dinge, die wir hinter uns lassen? Wo sind die Dinge, die vor uns liegen?“ Martin Bock machte zudem auf das Wortspiel „Über Wunden“, genialer Titel eines stadtweit beworbenen Passionskonzerts, aufmerksam, das den engen Zusammenhang zwischen dem Offenlegen der Verletzung und der Möglichkeit der Heilung zum Ausdruck bringt. Studienleiterin Lea Braun wies auf die künstlerischen Zugänge hin und erläuterte das Awareness-Konzept.
Erste Impulse des Studientages

Der erste Impuls des Studientages kam von Matthias Schwarz, Mitglied in der Betroffenenvertretung der EKD. Schwarz schilderte zunächst die Defizite im Umgang mit Betroffenen, zum einen das Missverhältnis zwischen Betroffenen und Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen, zu anderen die mangelnde Sensibilität. Auch sei „noch viel Luft nach oben bei den Menschen, die in Heimen sind“. Schwarz forderte eine Stärkung der Fachstellen sowie Präventionsschulungen und verpflichtende Fachtage in den Dekanaten. Er kritisierte die mangelnde Empathie in Schreiben an die Betroffenen und fügte hinzu: „Ich hätte mir gewünscht, dass es einen Aufschrei in den Gemeinden gibt!“ Als Ursache vermutete Schwarz eine Überforderung aufgrund von Umstrukturierungen und fragte gleichzeitig: „Hätte das nicht auch eine Chance sein können?“ In Hessen habe jeder fünfte Jugendliche Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht, berichtete Schwarz und gab zu bedenken, was dies für den Konfirmandenunterricht oder für unsere Sprache im Gottesdienst bedeute. Insbesondere in den Psalmen habe er für sich stärkende Bilder (Burg, Fels, Weite) gefunden.
Prof. Dr. Katharina von Kellenbach vom Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ökumene der Universität Paderborn widmete sich in ihrem Vortrag dem Thema „Nächsten-, Feindes- und Gottesliebe – „Befreiung“ aus Opfer- und Täterperspektive“. Zunächst ging Kellenbach auf die Erfahrungen ihres Vorredners ein und betonte, dass eine erste angemessene Reaktion auch im Schweigen, im Zulassen des Unsagbaren bestehen könne. Manchmal gelte es, angesichts des Leids Innezuhalten und erschüttert zu sein. „Der Druck, es gar nicht ernst zu nehmen, ist enorm“, stellte Kellenbach fest.
Was hören die Betroffenen? Was hören die Täter?
Trauma (aus dem Griechischen; Wunde/ Verletzung) sei ein opferzentrierter Begriff. Die Tätererfahrung sei hingegen eine Schulderfahrung, jedoch nicht immer mit Schuldgefühlen verbunden. Katharina von Kellenbach warf einen kritischen Blick auf das christliche Konzept der Feindesliebe. Dieses sei häufig mit dem Judentum kontrastiert worden, das mit Rache und Vergeltung in Verbindung gebracht wurde. Den „ikonischen“ Text des Christentums, die Bergpredigt (Matthäus 5, 38-48), hinterfragte die Theologin in Hinblick auf eine traumasensible Lesart: Was hören die Betroffenen? Was hören die Täter?

Einen weiteren relevanten Aspekt, den der Zeugenschaft, erläuterte von Kellenbach anhand von 5. Mose 19-21. „Wer etwas zur Anzeige bringt, wird leiden“, räumte von Kellenbach ein, „das ist keine angenehme Aufgabe!“ Von Zeugen erwarten wir, dass sie das Unsagbare öffentlich machen. Das sei immer ein „brutaler Prozess“. Im ersten Testament werden zwei oder drei Zeugen gefordert, um eine Anklage glaubhaft vorzubringen. Das vielzitierte „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sei nicht Ausdruck eines Rache-, sondern eines Entschädigungsprinzips. Jesus habe nicht juristisch gedacht, schon aus dem Grund, weil es zu seiner Zeit keine funktionierende Gerichtsbarkeit gegeben habe. Abschließend warf Katharina von Kellenbach die grundlegende Frage auf, ob das Gericht der richtige Ort sei, um sexuelle Gewalt zu verhandeln und gab zu: „Ich habe keine guten Antworten!“
In der anschließenden Diskussion kam zur Sprache, dass Gewaltfreiheit nur unter Gleichen funktioniere. Katharina von Kellenbach brachte diese These auf die Formel: „Frauen und Kinder schlagen nicht zurück!“ Eine Teilnehmerin berichtete von einem bewegenden Gottesdienst zum Fall von Giselle Pelicot und machte damit darauf aufmerksam, wie wichtig mentale Unterstützung und Prozessbegleitung für die Betroffenen ist. Zeugenschaft sei eine „spirituelle“ Aufgabe, betonte von Kellenbach. Das Rechtssystem sei „täterzentriert und opfervergessen“.
Traumasensible Bibellektüre
Den zweiten Vortrag des Studientages hielt Prof. Michaela Geiger, Inhaberin des Lehrstuhls für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Sie zeigte anhand von Textbeispielen auf, wie traumasensible Bibellektüre ganz praktisch aussehen könnte. Im Englischen, erklärte Geiger, seien die Begriffe „trauma-sensitive“ oder „trauma-informed“ gebräuchlich.
Traumasensibilität bedeute, informiert zu sein, Zeichen und Symptome zu erkennen, aber auch, mit dem Phänomen Trauma umgehen zu können, also Retraumatisierungen zu vermeiden, auf Gewalt (in der Sprache) zu verzichten, sichere Räume zu schaffen und den Kontext im Vorfeld zu klären. Eine traumasensible Grundhaltung, so Michaela Geiger, bestehe in der „Annahme des guten Grundes“, also der Trennung von Person und Verhalten, Wertschätzung des Gegenübers, Partizipation und Transparenz bzw. Berechenbarkeit sowie – nicht zuletzt – „Spaß und Freude“.
Heutige Erkenntnisse aus Psychologie und Trauma-Forschung seien jedoch nicht 1:1 auf biblische Texte übertragbar. „Trauma ist kein biblisches Konzept“, erklärte Geiger, „wir wissen nichts über die Psyche der Autoren und Redakteure.“
Traumaspuren in Erzählcharakteren, den Themen sowie den Gattungen
Traumaspuren lassen sich in Texten vor allem in drei Bereichen ausmachen: in den Erzählcharakteren, den Themen sowie den Gattungen (z.B. Klage). Michaela Geiger machte deutlich, wie bedeutsam Fiktionalisierung als Bewältigungsstrategie sein kann: „Zu einer Erzählbarkeit zu kommen, ist der erste Schritt der Bearbeitung.“ Literarische Merkmale seien das Stilmittel der Wiederholung, Brüche in den Verstehenskategorien sowie der Themenkreis Rache, Schuld, Scham, Überleben, Zorn. Die Traumaforschung sei in den 90er Jahren in Form der Literarkritik in die Theologie „eingewandert.“
Anhand des Berichts über das Babylonische Exil (insbes. Ezech. 37) zeigte Geiger auf, wie differenziert der Umgang mit Schuld betrachtet werden muss. Was auf den ersten Blick verstört und nach einer beinahe autoaggressiven Form des victim blaming aussieht, hat durchaus Anteile der Selbstermächtigung. Michaela Geiger beschrieb Zorn als eine Möglichkeit, mit der eigenen Energie in Kontakt zu kommen. Das Leid des Exils dem Zorn Gottes zuzuschreiben, ermögliche zum einen, mit Gott in Kontakt zu treten und setze zum anderen der Willkürerfahrung eine Kausalität entgegen.
In den Pausen hatten die Teilnehmenden die Gelegenheit, die berührende Installation „Tanz aus der Wunderkammer“ von Ulrike Oeter zu entdecken. Die Künstlerin verbindet im Raum schwebende weiße Kinderkleider als Symbol der Unschuld mit Nägeln als Zeichen der Wehrhaftigkeit und fragilen Schutzamuletten, die an Traumfänger erinnern.
Drei Gesprächsräume
Nach der Mittagspause tauschten sich die Referierenden auf einem Panel mit Pfarrer Christoph Rollbühler und Claudia Keller vom AK-Aufarbeitung Köln-Mitte aus.
Anschließend standen den Teilnehmenden drei Gesprächsräume offen: In Gesprächsraum 1 lautete die Frage: „Wie geht Liturgie- und Predigtsprache nach der ForuM-Studie?“, in Gesprächsraum 2 wurde „Perspektivwechsel konkret: Welche theologischen Konzepte und Grundsätze müssen wir revidieren – und dann?“ und in Gesprächsraum 3 wurde es (alltags)praktisch: „Wie geht Kirche um mit Betroffenen, Tätern, Mitwissenden, Unwissenden, … und denen dazwischen?“
Mit dem „Dreiklang“ Kaffee, Kuchen und Kunst endete ein kommunikativer und durchaus kontroverser Studientag, der Hoffnung darauf machte, dass die ForuM-Studie und deren Aufarbeitung kirchliche Kommunikation und Seelsorgepraxis nachhaltig verändern könnte – nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern im Interesse aller, denen Kirche am Herzen liegt.
Text: Priska Mielke
Foto(s): Priska Mielke
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